Im wilden Westen
1. Wildwest
Ein Saloon. Eine Bank, ein Korral. Neben dem Korral eine kleine Hütte. Die kleine Stadt sieht fast so aus wie sie im Wilden Westen ausgesehen haben könnte.
Alles nur Staffage natürlich. Die Zuschauertribünen ringsum gab es damals nicht. Wildwest-Festspiele finden hier regelmäßig statt.
Heute aber nicht. Alles leer. Der Saloon, die Bank…
“Cactus Jack meets Onkel Tom” steht über dem Eingang und auf den ganzen Plakaten.
Das muss der Name der Show sein.
Die Kulisse befindet sich nicht weit weg vom Hotel und deswegen haben sie einen kleinen Spaziergang hierhin gemacht. Zu sehen gibt es eigentlich nicht viel, könnte man meinen. Immerhin hat man sich mit den Details der Kulisse offensichtlich einige Mühe gegeben.
Sogar der große Saguaro-Kaktus an der Seite des Korrals hat echte Nadeln. Aber warum?
Und die Höhle im Kaktus? Da ist was drin!
Klappert da nicht was??
2. Der fliegende Schuh
Doch bevor sie dem Klappern nachgehen könne, hören sie ein Schlurfen, gaaanz gemählich … irgendetwas wird über den Sand des Korrals gezogen. Oder geschoben? Da! Hinten in der Ecke der Busch bewegt sich!! Da ist doch jemand! Angestrengt schauen sie in die Richtung. Ein die Blätter des Busches fressendes Maul ist kurz zu sehen. Scheint ein größeres Tier zu sein. Langsam kommt es aus dem Busch zum Vorschein: eine Riesenschildkröte ist es: Meine Güte, was hatten sie sich erschrocken. Die Schildkröte frisst unbeeindruckt weiter.
Nachdem sie das jetzt zuordnen konnten wenden sie sich dem Klappern in der Höhle des Kaktus zu. Ganz schön viele Geräusche hier in der ausgestorbenen Westernkulisse. Puh! Gerade als sie langsam näher an den Kaktus herantreten zischt etwas an ihren Köpfen mit hoher Geschwindigkeit vorbei und zieht einen Kreis durch die Luft. Sie reiben sich die Augen. “Kneif mich mal, Hank!” sagt Cora. “Siehst Du auch, was ich sehe?” Ein Turnschuh mit Flügeln schwirrt um sie rum, als wollte er sie narren. “Das erinnert mich fast ein bisschen an den Schnatz bei Harry Potter”, lacht Hank. “Vielleicht will er uns nicht narren, sondern auf etwas aufmerksam machen oder uns wohin führen?”, sagt Cora.
3. In der Werkstatt
Noch einmal umkreist sie der Turnschuh und fliegt dann schnurstracks durch die offene Türe in die kleine Hütte.
Sie folgen ihm und stehen in einem Raum, der wie eine Werkstatt aussieht.
In der Mitte steht ein großer Tisch und der Turnschuh steht mitten auf ihm.
Hinter dem Tisch sitzt ein Mann, der sie freundlich anlächelt. Er legt die Fernsteuerung, die er in der Hand gehalten hat auf den Tisch. “Alles hier ist in den Kulissen ist ferngesteuert. Alles künstlich. Eigentlich Kunst”.
Er greift neben sich und stellt etwas, das wie ein kleines Schaf mit Holzbeinen aussieht, auf den Tisch. Mit einer weiteren Fernsteuerung kann er die Beine bewegen und er lässt es über den Tisch hüpfen.
“Nur ein Prototyp. Mal sehen, ob man das in groß mal verwenden kann in einer Show. Mit ein wenig Technik kann man fast alles machen.”
Jetzt wo der Turnschuh still dasteht, erkennt man kleine Rotoren an den Seiten.
“Meistens sitze ich hier alleine am Basteln und die letzte Zeit ohne Vorstellungen war ganz schön langweilig. Aber jetzt, da mal Besuch da ist und ihr irgendwie ausseht, als wärt ihr ziemlich interessiert an kleinen und großen Rätseln, könntet ihr mir vielleicht bei einer Sache helfen.”
Er legt eine Axt auf den Tisch. “Diese Axt habe ich letztens neben der Hütte gefunden. Irgendetwas ist merkwürdig an ihr, aber ich bekomme es nicht raus. Zu wenig Elektronik…” Er lacht.
4. Das Rätsel um die Axt
Cora und Hank schauen sich beide sprachlos an. Was sollten sie dazu jetzt sagen? Eine normale Axt halt mit der man Holz hacken kann und Bäume fällen. Was man halt so macht mit einer Axt. Hank bewegt seinen Mund aus wollte er etwas sagen, doch Cora schüttelt leicht den Kopf, so dass Hank seine Worte unterdrückt und nur tonlose Laute von sich gibt, wie in einer leeren Sprechblase. Der Mann beobachtet ihn fasziniert, aber als nichts aus dem Mund herauskommen will, verliert er dann doch das Interesse und wendet sich wieder seinen elektronischen Spielzeugen zu.
Cora nimmt die Axt vom Tisch und schaut sie sich genauer an. Als sie sie in der Hand hält merkt sie auch, dass etwas merkwürdig ist mit der Axt. Eine leichte Schwingung geht von ihr aus und in ihrem Kopf formt sich ein Bild des kleinen wilden Mannes mit Zipfelmütze und Laterne und in der anderen Hand eine Axt. Wie ein Waldschrat! Ein Gedicht fällt ihr dazu ein:
“Der Waldschrat ist ein armer Wicht,
gesehen hat man ihn noch nicht.
Er lebt im Wald, das weiß man schon,
dann schau ich mal ins Lexikon.
Ich schau nach Wald und such nach Schrat,
doch auch dies Buch hat keinen Rat.
Mein Nachbar schüttelt nur den Kopf
Und kratzt sich fragend an den Schopf.
Ein andrer meint im Haus vom Rat,
schon mal erlebt hat, so ein Schrat.
Ein Schüler, der nicht will benannt,
sprach, so ein Typ ist mir bekannt.
Beim Karneval beim Faschingstag,
ja, in der Bütt, beim Bundestag.
Selbst im Verkehr der Autobahn
Ist man dem Wesen zugetan.
Ja, alle Menschen, weit und breit,
kennen ihn gut, wissen Bescheid.
Doch mancher Mann, doch manche Frau
Beschreibt ihn ziemlich ungenau.
Mal ist er groß, mal ist er dick,
hat Lumpen an oder ist schick.
Vielleicht auch klein und hoch studiert.
Mit schweren Orden ausstaffiert.
Da kommt ein Kind und neckt mich an
Und ruft: Hey Waldschrat, alter Mann.
Und lacht, hüpft fort, wie Kinder sind.
Ich ruf es nach: Danke, mein Kind.
Jetzt weiß ich, wo der Schrat vom Wald,
sich rumtreibt, ja sein Aufenthalt
ist auch in mir, manchmal versteckt.
Bis er die Nase rausgestreckt.
Manch Dinge, die gar keiner kennt,
so mancher sie beim Namen nennt.
Man meint sie oft am falschen Ort.
Doch sind ganz nah, gar nicht weit fort.
Ich glaube sicher, dass geschieht,
weil man die eigne Nas nicht sieht.
So hat dann so ein Fabeltier.
Ein warmes Nest auch tief in mir.
Nun, eine Frage bleibt da noch.
Der Waldschrat, ja, so heißt er doch.
Doch woher kommt der Name nur?
Es gibt ihn nicht in der Natur.
In Wald und Flur, im Meer und Moor.
Kommt dieser Name gar nicht vor.
Den hat sich sicher mit Bedacht,
der Waldschrat selber ausgedacht.
Werner Winkelmann”
“Die Axt könnte also einem Waldschrat gehören, und deswegen ist etwas komisch mit ihr, versteht Ihr?!”, fragt Cora Hank und den unbekannten Mann in der Hütte.
“Ganz toll Cora, dass Du Gedichte aufsagen kannst! Aber du scheinst auch etwas verrückt zu sein, meine Liebe”, sagt Hank! “Waldschrate gibt es nicht.”
5. Noch zwei
“Und außerdem ist hier nirgendwo ein Wald!”
Jetzt müssen sie alle lachen. Ja, dieser Logik kann man sich nicht entziehen.
Also rätseln sie weiter, als es an der hinteren Türe klopft. Cora öffnet und zwei kleine Personen stehen vor ihr.
“Seid ihr etwa Wald …?”
Gerade noch rechtzeitig bricht sie ihren Satz ab; hätte vielleicht als Beleidigung aufgefasst werden können.
“Keine Sorge, wir haben gehört, worüber ihr geredet habt”, sagt der eine der beiden Kleinen.
“Und es stimmt tatsächlich, die Axt ist von uns.”
Sie stellen sich vor den Besitzer der Hütte und schauen zum ihm hoch. “Du kennst uns vielleicht nicht, aber ganz früher bei Deinem Vorgänger, als es noch nicht die ganze Elektronik gab, haben wir für den einen oder anderen Spezialeffekt bei den Vorstellungen gesorgt. Und ab und zu durften wir sogar eine Rolle spielen! Lilli und Put haben wir uns scherzhalber genannt.”
“Aber jetzt sind wir für sowas natürlich fast schon zu alt.”
Sie drücken sich gegenseitig, als würden sie das selbst nicht glauben.
“Und ich heiße übrigens Waldemar.”
Jetzt müssen alle fünf schallend lachen.
Waldemar stellt einen schweren Beutel auf den Tisch. Fast muss er ihn dazu über den Kopf heben.
Dann klettern sie zusammen auf eine Bank und schauen in die Runde.
“Also es ist so: Die Axt hat tatsächlich was Außergewöhnliches, wenn man es so nennen soll. Einen besonderen Vorbesitzer. Und das hier gehört auch alles dazu” sagt Waldemars Begleiterin (sie heißt übrigens Helga, wie die anderen später erfahren sollten) während sie den Beutel auspackt.
6. Der Weg
Helga hält Hank als erstes eine Brille mit großen, runden Gläsern hin. “Hier, zieh di mal auf!” Hank nimmt die Brille zögerlich. “Ich kann eigentlich noch gut sehen, ich brauche keine Brille!”, sagt Hank. “Zieh sie halt auf!”, sagt Cora. Was soll´s! Die Brillengläser sind irgendwie ganz dick und schwer und scheinen stark zu sein. Sie sehen fast aus wie Lupen. Als er endlich die Brille aufhat, fragt ihn Helga: “Und, was siehst Du, wenn Du nun geradeaus schaust?”
Hank würde sich am liebsten die Augen reiben. Er sieht nämlich plötzlich einen gewundenen Weg vor sich und ganz weit weg am Horizont ein Gebäude, das fast wie eine Kerze ausschaut. Er nimmt die Brille ab und hält sie Cora hin. “Zieh Du sie mal auf und sag mir, was Du siehst!” Cora nimmt die Brille und setzt sie auf. Auch sie sieht plötzlich den Weg und das Gebäude. “Wahrscheinlich sollte einer von uns die Brille aufbehalten und wir gehen gemeinsam den Weg und schauen uns mal an, was es mit dem Gebäude auf sich hat. Vielleicht finden wir da ja weitere Hinweise darauf, was es mit der Axt auf sich hat!”, sagt Hank. Cora willigt ein und sie überlässt Hank die Brille. Gemeinsam, Hand in Hand, damit Cora nicht verloren geht, machen sie sich auf den Weg.
7. Archimedes
Als sie sich dem Turm nähern, stellen sie fest, dass die Eingangstür nur angelehnt ist.
Sie rufen, aber niemand antwortet. Sie stoßen die Türe ganz auf und betreten nacheinander den kleinen Raum. Auf einem Tisch steht eine Schale Reis, der noch dampft und sie wundern sich über einen umgeworfenen Stuhl. Der oder die Bewohner müssen ganz eilig aufgebrochen sein.
8. Noch ein Rätsel
Cora untersucht die Kochecke, dann ruft sie plötzlich laut auf: “Die Axt, wer hat sie mitgebracht?”
Die anderen schauen sie an, etwas verwirrt.
“Kann man den Stiel abmachen?” Jetzt versteht auch Hank, als Cora auf die Küchenwaage zeigt.
Mit einigem Einsatz gelingt es ihm, Stiel und Kopf der Axt zu trennen.
Sie legen den Kopf auf die Waage und messen 2,3 kg.
Cora nimmt einen großen Topf, füllt ihn mit Wasser und wiegt ihn. Jetzt legt sie den Axtkopf hinein, sodass das Wasser überläuft. Dann nimmt sie den Kopf heraus und misst sie den Rest des Wassers: 125 Gramm weniger als vorher!
Sie haben eine Ahnung, was sich im Inneren des Kopfes der Axt hauptsächlich befinden könnte…
9. Der Anflug
Doch bevor sie ihre Vermutung äußern können, hören sie lautes Poltern. Jemand nähert sich mit stampfenden Schritten dem Haus und reißt die Tür auf! Ein Wesen, das halb wie Gorilla halb wie ein Steinzeitmensch aussieht steht drohend vor ihnen und schwingt seine Keule. Sie gehen in Deckung und versuchen sich vorsichtig zum Ausgang zu tasten. “Nun, das Rätsel mit dem Reis ist jetzt wenigstens gelöst!” “Hast Du noch die Brille, Hank? Damit wir den Weg wieder zurückfinden? “Ja, habe ich, nimm Du schnell die Axt!” Der Wilde macht drohende Geräusche und kommt ihnen immer näher. Sie schaffen es gerade aus der Tür raus und nehmen die Beine in die Hand.
Gerade als sie auf dem Weg sind hören sie das nächste seltsame Geräusch und drehen sich um. Hinter ihnen ist ein Heißluftballon im Landeanflug. Da steht mindestens eine Person drin und winkt ihnen ganz wild zu. Was soll das nun wieder? Sie schauen, ob der Wilde noch hinter ihnen her ist und beschließen dann stehen zu bleiben und die Landung abzuwarten.